Auf der Suche nach den vermissten Klimazahlen

Anscheinend bräuchte es eine Spürnase wie Sherlock Holmes um den derzeitigen Stand rund um das Thema Klimaschutz in der Region zu ermitteln.

Über die Herausforderung, zu ermitteln, wo der Rhein-Neckar-Kreis beim Klimaschutz steht.

Es ist ein mutiges Ziel, dass sich der Rhein-Neckar-Kreis 2021 in seinem neuen Klimaschutz­konzept gegeben hatte: Einstimmig beschlossen wurde seinerzeit, dass der Landkreis als Ganzes eine Absenkung der CO2-Emissionen verfolgen wird, die kompatibel mit dem Pariser Abkommen von 2015 ist [1]. Als Ganzes! Das bedeutet nicht länger nur die Verwaltung und die kreis­eigenen Gesellschaften in den Blick zu nehmen, sondern den Landkreis als Ganzes, mit seiner Bevölkerung, seinen Betrieben, seiner Landwirtschaft und seinen Fahrzeugen.  Die Aufgabe „klimaneutraler Land­kreis“ ist daher auch circa einhundertmal größer und schwieriger zu erreichen, als „nur“ die „klima­neutrale Verwaltung“. Was zunächst anmaßend und utopisch erscheint, ist nur folgerichtig, denn im Pariser Abkommen ist jede Ebene mitgemeint, das ihre zu tun, um die aus dem Ruder laufende Klimakrise einzudämmen: Ländern, Bundesländer, Städte und eben auch Landkreise. Auch die Klimaneutralität von Deutschland oder Baden-Württemberg erfordert ja mehr als die Fassade des Bundeskanzleramts zu dämmen oder eine Wärmepumpe in die Villa Reitzenstein einzubauen. Das ganze Land muss mitgenommen werden, so schwierig diese Aufgabe auch ist.

Nun vier Jahre nach dem wegweisenden Beschluss wäre es an der Zeit, nachzuprüfen, ob der Landkreis auf dem richtigen Pfad ist: Gehen die Zahlen bei den Treibhausgasen ausreichend steil bergab, wie es das Pariser Abkommen erfordert? Die Beantwortung dieser Frage gestaltet sich überraschend schwierig und führt tief hinein in den deutschen Behördendschungel mit seinen vielfältigen Zuständigkeiten und Kompetenzen. Eine Spurensuche.

„Aktuelle Zahlen“ sind fünf Jahre alt

Eigentlich könnte alles so einfach sein. Der Landkreis betreibt unter www.klimaschutz-rnk.de eine komfortable und einfach zu bedienende Webseite, die das Klimageschehen in der Region detailliert nachzuverfolgen erlaubt: Für die einzelnen Kreisgemeinden wie auch für den Land­kreis insgesamt ist dort verzeichnet, wie sich die Energienutzung und der CO2-Ausstoß über die Jahre entwickelt. Im Grunde vorbildlich! Leider jedoch enden die Zahlenreihen dort im Jahre 2019. Aktuellere Auswertungen? Fehlanzeige.

Die erste Nachfrage geht daher an die engagierten Klimaexpertinnen und -experten des Land­kreises und ergeben als Antwort, dass die nötigen Zahlen schlicht nicht wie für eine zeitnahe Auswertung erforderlich, von den entsprechenden baden-württembergischen Landes­behörden zur Verfügung gestellt werden. Eine Nachfrage dort verweist auf die Tatsache, dass diese Zahlen bei knapper Personaldecke bislang als sozusagen freiwillige Leistung erhoben wurden, dass aber dieser Prozess nach einer Gesetzesänderung auf Bundesebene 2019 nicht mehr so glatt und rasch wie zuvor abläuft.

Eine Nachfrage bei der Bundesregierung schließlich ergibt, dass es vielleicht doch eher eine Angelegenheit hier vor Ort ist, ob das entsprechende Werkzeug mit Namen BICO2, das das Monitoring des lokalen Klimageschehens unterstützt, auch wirklich eingesetzt wird, wie es viele andere Landkreise in Baden- Württemberg täten. Eine entsprechende Nachfrage beim Land­kreistag Baden-Württemberg bleibt lange unbeantwortet und erst auf Nachfrage wird mir erläutert, der Landkreistag sei eine Interessensvertretung der Landkreise, man könne und werde mir daher mit meiner Frage, wie denn dieses Monitoring in anderen Landkreisen gemacht werde, nicht weiterhelfen. Widerspricht meine Nachfrage nach dem aktuellen Stand der Klima­be­mühungen der baden-württembergischen Landkreise am Ende den Interessen eben dieser Landkreise?

Zurück im Landkreis Rhein-Neckar erfahre ich auf Nachfrage, dass inzwischen immerhin die Zahlen für 2020 und sogar 2021 bereits übermittelt wurden und demnächst entsprechend aufbereitet verfügbar seien. Die Zahlen von 2021 also werden demnächst, irgendwann in 2024 vorliegen, mithin mit dann wieder fast vier Jahren Verzögerung? Das erscheint – Behördenwirrwar hin oder her – arg verspätet.

Die Klimakrise darf als die vielleicht größte Herausforderung der Menschheit gesehen werden. Längst kündigen sich ihre katastrophalen Folgen nicht nur an, sondern stehen mitten im Raum und bringen Stürme, Überschwemmungen, Trockenheit und Ernteausfälle. Entsprechend präsent ist das Thema Klima daher auch in der öffentlichen Diskussion, ob in der Politik oder am Stamm­tisch. Manche verdrehen inzwischen schon die Augen beim Thema Klima. Da überrascht es dann aber doch, dass anders als bei vielen anderen wichtigen Themen an aktuellen Zahlen nach wie vor akuter Mangel herrscht. Ob DAX, Inflation oder Wirtschaftswachstum: Tagesgenaue Kennzahlen sind für die Standortbestimmung in Politik, Medien und Gesellschaft unverzichtbar. Sinkt der Dax um 4% ist von Katerstimmung die Rede. Steigt das Wirtschaftswachstum um 0,5% knallen die Champagnekorken.

Besser nicht genau hinschauen?

Nur beim Thema Klima scheint dies anders zu sein. Eine Absenkung der CO2-Emissionen ausgehend von einem Ist-Wert 2020 gegen null im Jahre 2040 würde bei konstantem Tempo ca. 5% Einsparung pro Jahr erfordern. In den vier Jahren seit 2020 also bereits 20%. Das ist eine Menge, aber wie liegt die Region hinsichtlich dieses Ziels? Derzeit unbekannt.

So wichtig ist das Thema und so unbefriedigend ist diese Situation, dass sich die Frage stellt, ob es denn nicht andere, raschere, einfachere Ansätze für eine Standortbestimmung gibt. Und dabei richtet sich der Blick auf die Königsdisziplin beim Klimaschutz: Den Umbau unseres Energiesystems im Land hin zu den Erneuerbaren. Im Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur, werden nicht nur die Daten aller (angemeldeten) Energieerzeugungsanlagen im Land zusammengetragen, diese Daten sind außerdem für jedermann und jedefrau einsehbar.

Eine rasche Auswertung des mehr als ein Gigabyte großen Datensatzes ergibt [2], dass der Landkreis Rhein-Neckar leider derzeit was die regionale Nutzung von Erneuerbaren Energien in der Region angeht, unter den Schlusslichtern im Land Baden-Württemberg rangiert. Pro Einwohner erzeugen Landkreise wie der Main-Tauber-Kreis, der Landkreis Schwäbisch Hall oder der Landkreis Sigmaringen ein vielfaches an regionaler, sauberer Energie. Eine Wieder­holung dieser Analyse mit den Zahlen von 2023 zeigt dabei, dass sich an dieser Situation noch nichts geändert hat. Ursächlich für dieses enttäuschende Abschneiden des Landkreises Rhein-Neckar ist dabei, dass gerade die entscheidende Säule bei der Erneuerbaren Energieerzeugung, die Windenergie, bislang im Rhein-Neckar-Kreis noch überhaupt nicht angekommen ist. Mit einer glatten Null beim Wind und bestenfalls durchschnittlichen Werten bei Photovoltaik jedoch rangiert der Landkreis seit Jahren auf den hinteren Plätzen beim Thema Energiewende.

EE-Ausbau lokal beschleunigen: Was bringt’s? Ein Exkurs

Wie es anders geht, zeigen die direkten Nachbarn im Neckar-Odenwald-Kreis: Bereits 2016 meldete die Rhein-Neckar-Zeitung, der Landkreis konnte durch sein Engagement bei den erneuerbaren Energien seine jährlichen Prokopf-CO2-Emissionen auf 3,86 Tonnen herunterbringen [3]. Zum Vergleich: Der Durchschnitt in Deutschland liegt derzeit bei etwa 8 Tonnen. Auf dem Weg zur Klimaneutralität, auf den sich unsere Gesellschaft machen muss, hatten also unsere Nachbarn im Neckar-Odenwald-Kreis also bereits 2016 gut die Hälfte des Weges hinter sich gebracht – der Ausbau der mitentscheidenden Windenergie ist seither im Neckar-Odenwald weiter voran­gekommen, während der Rhein-Neckar-Kreis auch heute noch hier praktisch bei null steht.

„Energiewende und Klimaschutz? Ja gerne, aber am besten anderswo!“ ist längst keine verantwortbare Position bei diesem Thema.

Schön und gut, wenden dann sogleich manche ein: Aber seien die für den Klimaschutz nötigen Finanzmittel überhaupt darstellbar in diesen Zeiten von knappen Haushalten und schwächelnder Wirtschaftslage? Auch hier hilft eine rasche Abschätzung weiter: Auf Anfrage der Grünen im Kreistag Rhein-Neckar [4] hatte der Landkreis unlängst erhoben, welche Ausgaben aus dem Landkreis jährlich insgesamt in fossile Energien unterschiedlichster Form – also Gas, Benzin, Diesel, Heizöl, Kohle, sowie fossil erzeugten Strom – fließen. Diese Abschätzung ergab den eindrucksvollen Wert von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Eine konsequente Energiewende, die den Fokus auf lokale Potenziale Erneuerbarer Energieerzeugung legt, hätte das Potenzial, einen beträchtlichen Teil davon hier bei uns in der Region zu halten und damit Investitionen, Beschäf­tigung und Wertschöpfung auszulösen, statt diese Finanzströme in ferne oft undemokratische Lieferländer zu lenken. Rhein-Neckar-Sonne und Rhein-Neckar-Wind für Rhein-Neckar-Kranken­häuser und Straßen muss hier die Losung sein.

Welche Spielräume eine engagierte Energiewende auch lokal eröffnen kann, zeigt der Blick in den Energiewende-Modelllandkreis Rhein-Hunsrück in Rheinland-Pfalz. Dort hat man sich bereits vor über fünfzehn Jahren konsequent auf den Weg gemacht und ist seither nicht nur im Saldo zum energetischen Selbstversorger mit lokaler, sauberer Energie geworden. Auch wirtschaftlich war dieser Weg nicht zum Schaden der dortigen Kommunen: Der Rhein-Hunsrück-Kreis glänzt inzwischen mit der niedrigsten Pro-Kopf-Verschuldung der Landkreise in Rheinlad-Pfalz und die Energiewende bewegt Millionenbeträge für die lokalen Betriebe, für Beschäftigung und Investitionen. Für den unter Millionendefiziten ächzenden Rhein-Neckar-Kreis könnte diese Erfolgsgeschichte also nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus ökonomischen Überlegungen heraus inspirierend sein.

Fazit: Endlich ernst machen beim Klimaschutz, auch hier!

Mit dem mutigen Klimaschutzkonzept von 2021 hat der Rhein-Neckar-Kreis einstimmig und über alle sonstigen Differenzen zwischen den Parteien das sinnvolle und dringend nötige Ziel ins Auge gefasst, mit raschen Schritten die Klimaneutralität anzustreben – nicht nur für die Verwaltung sondern für den Landkreis als Ganzes. Dieses Ziel ist nicht nur ökologisch geboten und seit dem Pariser Abkommen auch erklärte Absicht Deutschlands und Baden-Württembergs sowie weltweit. Es ist auch wirtschaftlich sinnvoll und vielversprechend.

Leider herrscht derzeit keine Klarheit, wie gut der Rhein-Neckar-Kreis auf diesem Weg in den letzten Jahren vorangekommen ist und die zur Verfügung stehenden Abschätzungen lassen nichts gutes erahnen.

Ambitionierte Ziele sind wichtig. Ebenso wichtig ist aber die regelmäßige Evaluation: Wie kommen wir voran?

Stefan Geißler, Kreisrat Rhein-Neckar-Kreis

[1] https://www.rhein-neckar-kreis.de/site/Rhein-Neckar-Kreis-2016/get/params_E1518961087_Dattachment/3206118/Fortschreibung%20Klimaschutzkonzept%20Rhein-Neckar-Kreis.pdf, Seite 61.

[2] https://gruene-kreistag-rnk.de/wp-content/uploads/2022/07/Abschaetzung-EE-in-BW-RNK-20220726.pdf

[3] https://www.rnz.de/region/neckartal-odenwald_artikel,-Buchen-Neckar-Odenwald-Kreis-erneut-unter-den-Top-10-beim-CO2-Ausstoss-_arid,243533.html

[4] https://gruene-kreistag-rnk.de/wp-content/uploads/2022/03/Anfrage_vom__06062020_Aufwendungen_fossile_Energietraeger.pdf

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